STORY

An der Kreuzung.
Über die Grenze.
Im gelobten Land.

 

An der Kreuzung

»We are coming, we are coming, we will arrive soon
   we are coming, we are coming, we are moving across this earth
   we are crossing over those dark mountains
   where we will lay down our troubles.«

Savuka feat. Johnny Clegg, The Crossing

Die Kreuzung. Ein mythischer Ort.
Im Alltag nehmen wir das selten wahr. Wir stehen an irgendeiner Kreuzung, mitten im Leben, Gehkaffee in der einen, das wischfeste Zweithirn in der anderen Hand – und meistens ist das wurscht, man muss schließlich nur von A nach B.
Dabei ist die Kreuzung eine Vereinigung von Gegensätzen, wie in der Genetik. Ein Knotenpunkt, eine Begegnungsstätte, wie im Verkehr. Aber auch ein Begräbnisort, bestattete man in der Vergangenheit Selbstmörder und Verbrecher an Kreuzwegen, damit deren Seelen sich verirrten und die Lebende nicht heimsuchten. Von der Kreuzung als Symbol ganz abgesehen, für getrennte Wege oder eine Entscheidung, die getroffen werden muss.
Brixtonboogie standen an so einer Kreuzung.

Diese Kreuzung war nicht so magisch wie die in Clarksdale, Mississippi, wo sich Highway 61 und 49 treffen. Glaubt man einer der bekanntesten Blues-Sagen, hat dort der junge Robert Johnson seine Seele dem Teufel verkauft, um jene Blues-Berühmtheit zu werden, die er letztlich auch wurde. Aber die Frage lautete, ganz klassisch, schon: Woher kommen wir, wohin gehen wir?
2005 von dem Gitarristen, Mundharmonikaspieler und Studioeigner Krisz Kreuzer ins Leben gerufen, hatte sich das Kollektiv der Aufgabe verschrieben, den Blues in die Gegenwart zu holen. Ende 2009 erschien „Urban Blues“, das erste Album. Es machte schnell klar, dass es nicht darum ging, alte Klagelieder einmal mehr zu kopieren. Sondern das Aufpeitschende, das Kraftspendende, das Mutmachende des Blues, seinen grundsätzlichen Spirit, für das Heute nutzbar zu machen. Eine Linie zu ziehen zwischen den amerikanischen Baumwollsklaven Ende des 19. Jahrhunderts und den modernen Großstadtsklaven des 21. Jahrhunderts.

„Es gibt Dinge“, sagt der 1962 geborene Krisz Kreuzer, „die ändern sich nicht. Man ist manchmal unten. Weil man Streit mit seiner Liebe hat. Weil der Chef nervt. Weil die Steuerprüfung bevorsteht. Warum auch immer, der Blues schenkt einem dann drei Dinge. Erstens Trost, denn du bist offenbar nicht der Einzige, dem es so geht, er ist also unten mit dir. Zweitens die Energie, da wieder rauszukommen, andere haben das ja auch geschafft, sonst könnten sie nicht so davon singen. Und schließlich vermittelt er noch Gemeinschaft und Solidarität. Alles gutes Handwerkzeug, wenn man Dinge verändern will.“

Brixtonboogie veränderte den Blues. Holte ihn aus dem Ghetto der Stadtteilfestbands, erweiterte das Spektrum mit Coverversionen von Depeche Mode oder den Congos, mit Samples von Nina Simone und John Lee Hooker, mit zeitgenössischen Beats vom HipHop und Downbeat. Vor allem aber atmeten alle Tracks zwar den Blues, überlieferten aber keine Vergangenheit, sondern Zukunft. „Urban Blues“ war so weit entfernt davon, den Nachlass zu verwalten, glich eher einer Zeitmaschine – Blues to use for today.

Nur, wie weiter?
Durch zahlreiche Auftritte inzwischen extrem eingespielt, begann man zu experimentieren. Was in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts geschehen war, als sich der Blues durch Willie Dixon, Elmore James und Muddy Waters elektrifizierte (was letztlich zu Bands wie den Rolling Stones und Led Zeppelin führte), dies könnte doch wieder geschehen. Diesmal in der Kombination mit elektronischer Musik. So guckte man von der Basis aus mal nach links, mal nach rechts.
Es dauerte eine Weile, bis sich herausstellte, dass man an der Kreuzung falsch abgebogen war. Aber es ist keine Schande, Fehler zu machen. Es ist nur eine, sie zu wiederholen.

„John The Revelator“, das erste Zeichen von Brixtonboogie nach drei Jahren, stieg auf Platz Eins der iTunes-Blues-Charts ein – ausgerechnet vor Eric Claptons Album „Crossroads“.

 

Interlude: Drei Anspieltipps

„John The Revelator“. Die Melodie einer Spieluhr leitet einen düsteren, soghaften Blues ein, der zu knochentrockenen Beats danach fragt, wer das Buch der Apokalypse geschrieben hat. Die Antwort kommt mit einer Tiefe, die das Schlimmste, ja: den Weltuntergang erwarten lässt: John The Revelator aka Johannes, der Apostel. Aber die dunkelste Stunde ist bekanntlich die vor Sonnenaufgang…

„U Gotta Move“. Geachtetes Traditional. Wayne Martin –nur von einem irdischen Plattenknacken, einem vom Himmel perlenden Piano sowie sparsamen Gitarrenlicks begleitet –macht in dieser anrührend verhaltenen Version klar, dass der Tod nichts ist, über das man selbst bestimmt: „You may be high / You may be low / You may be rich / You may be poor / But when the Lord gets ready / U gotta move.“ Lektion in Demut.

„Love Ain’t Just A Word“. Ein Liebeslied, klar. Aber was für eines: Mit klassischem James-Bond-Appeal kommt da ein Song um die Ecke, der eine Kathedrale für das schönste Gefühl auf Erden errichten will, die der Gaudis Sagrada Familia in Barcelona in Nichts nachsteht. Während die Band rast, stolpert und weiter stampft, kämpft Dede Priest dafür, dass Liebe gelebt werden muss.  

 

Über die Grenze

»Late last night the rain was knocking on my window
I moved across the darkened room and in the lampglow
I thought I saw down in the street
the spirit of the century
telling us that we’re all standing on the border.«

Al Stewart, On the Border

Die Grenze. Ein mythischer Ort.
Die meisten glauben inzwischen, es gäbe keine mehr. Schließlich kann man von Münster ins Valle Gran Rey reisen, ohne auch nur einmal seinen Personalausweis vorweisen zu müssen. Von den endlosen Weiten des Internets ganz abgesehen. Aber ersteres sollte man besser nicht Afrikanern auf die Nase binden, die versuchen, sich aus unerträglichen Lebensumständen in Nussschalen auf die Kanarischen Inseln zu retten. Und bei zweiterem ist das Gelächter der Verantwortlichen von Apple, Facebook, Google etc. deutlich zu hören.

Aber die Grenze ist auch sonst tückisch und dialektisch. Wer sagt, dass Grenzen eingerissen werden müssen, meint meistens nur, dass sie für ihn bitte nicht gelten sollen. Eine Schwelle wird zudem oft willkürlich gesetzt, lädt zum Überqueren geradezu ein, und wer die Macht besaß, eine Grenze zu bestimmen, hatte sie eh schon überschritten. Sie ist zudem Symbol einer Initiation, eines Übergangs. Der Ort, an dem das Unbekannte beginnt. Und oft findet sich an ihr jemand, der einen prüft, den es zu überwinden gilt – und sei man es nur selbst. Der man mit jeder Zelle, mit dem Körper begrenzt ist, auch mit seinem Geist. Was man andererseits übertreffen kann …
Brixtonboogie haben diverse Grenzen überwunden.

    
Der Blues sprach stets davon, Grenzen zu sprengen. Grenzen, die durch Ketten, Zäune, Hautfarben und schlicht durch Geld definiert wurden.
Weshalb das Kollektiv Brixtonboogie so wenig Grenzen für sich selbst zuließ wie möglich. Das beginnt damit, dass Krisz Kreuzer eine Musik, die wie keine andere für die schwarze Landbevölkerung der USA steht, als Weißbrot einer deutschen Großstadt spielt. Ja, und? Das setzt sich fort in einer Altersstruktur, die bei dem 22-jährigen Rapper AJ beginnt und bei dem 70-jährigen Wayne Martin endet. Das beinhaltet auch, dass die Mitglieder des Kollektivs mal schwarz, mal weiß und mal irgendetwas dazwischen sind, wenn etwa, wie bei AJ, die Mutter aus Deutschland stammt und der Vater aus Benin. Es endet längst nicht damit, dass die Frage des Geschlechts egal ist – was man beispielsweise daran sehen kann, dass Mascha Litterscheid eben nicht nur eine eindrucksvolle Sängerin ist, sondern zudem auch für einen Großteil der Gesangsmelodien und Songtexte verantwortlich zeichnet und als Ideengeberin unverzichtbar ist.

Und jedes Mitglied hat seine eigenen Bezüge zum Blues. Krisz Kreuzer spielte schon als Schüler Mundharmonika in Blues-Bands. Mascha leitete in New York nicht nur ein Elektro-Projekt, sondern arbeitete zeitgleich mit einer Bluesband. AJ hielt seinen Kommilitonen an der Hamburger HipHop-Akademie, die gerade mal den Soul kannten, einen Vortrag darüber, woher ihre Musik ursprünglich stammt. Und Wayne Martin muss man nur singen hören und sehen, um zu wissen, wie tief der Blues in ihm, der in New Orleans geboren wurde, verwurzelt ist.

„Inzwischen ist tatsächlich so etwas wie eine Familie entstanden“, fasst Kreuzer den Entwicklungsprozess der letzten Jahre zusammen. Nicht ohne zu ergänzen: „mit allen Vorteilen und Nachteilen. Jeder hat seine Macken – aber Blues ist dicker als Wasser. Wayne nennt AJ inzwischen sogar ‚son‘. Und deshalb sind wir jetzt so auf den Punkt, dass wir die nächste Stufe zünden können.“

 

Noch ein Interlude: Vier weitere Anspieltipps

„Way Down In The Hole“. Die Titelmelodie der TV-Serie „The Wire“. Der  Song – eine Warnung, dass Geld und Gier dabei sind, die Welt unfreundlich zu übernehmen – kommt mit einer Kraft daher, die dies verhindern könnte: ein breitbeiniger Beat, eine Harp wie eine gerade Rechte, Orgel-Sprengsel wie Ninja-Sterne und dazu der sich gegen alles Böse stemmende Gesang von Wayne Martin. Der Komponist Tom Waits gab persönlich seinen Segen.

„Somethin’ Within’ Me“. Eine akustische Gitarre und eine Slide-Gitarre sind verabredet, eine wie aus dem Jenseits stammende Stimme kommt dazu, dann ein fetter Beat, die so klagende wie anklagende Stimme der amerikanischen Gastsängerin Dede Priest und schließlich der Rap von Gastrapper Bryan Sanders aus Las Vegas. In einer besseren Welt würde dieser Song aus dem Stand den sofortigen Streik aller Ausgebeuteten einleiten. 

„Heaven“. Was mit einem männlichen Wehgesang aus einem Gefängnis einsetzt, wandelt sich zu einer Swing-Nummer mit vertrackten Off-Beats, viel Blues-Harp und treppauf, treppab steigenden Bläsersätzen, wie sie auch aus der Stax-Ära stammen könnten. Die darüber hinaus auch klar machen, wie auch der sich stetig steigernde Dialog von Mascha und Wayne Martin, dass der Weg in den Himmel beschwerlich ist…
„Back Home“. Erinnert sich noch jemand an den Klammerblues? Wenn die Beleuchtung auf der Tanzfläche extra für die Paare abgedunkelt wurde? Und dann „Stairway To Heaven“ (Led Zeppelin), „I’m Your Man“ (Leonard Cohen) oder „Smiling Faces Sometimes“ (Undisputed Truth) lief? Diese Ballade – ein optimistisches Roadmovie über ein Gesicht, ausgebreitete Arme und die Frage, wo man hingehört – passt nahtlos in diese Reihe. 


Im gelobten Land

»Left there in a hurry
looking forward to my big surprise
the next day I discovered
that the fortune teller told me lies.

I hurried back down to that woman
as mad as I could be
I said I didn’t see nobody
why had she made a fool out of me?

Then something struck me
as if it came from up above
while looking at the fortune teller
I fell in love.«

Allen Touissant, Fortune Teller

 

Das gelobte Land. Sowieso ein mythischer Ort.
Je nach Auslegung der religiösen Lehren entweder der Garten Eden oder aber das Land Kanaan, welches Gott im Buch Genesis Abraham für seine Nachkommen auf ewig versprach. Wobei die Frage offen bleibt, wie man das deuten darf: In altägyptischen Texten wurden die Kanaanäer schon mal als Räuber und Rebellen bezeichnet, vor den Fruchtbarkeitsgöttern des Landes generell gewarnt.
Aber sei’s drum, heute versteht man das Land der Verheißung eher metaphorisch. Als einen Idealzustand von Ruhe und Frieden, der wiedergewonnenen Unschuld und der Seligkeit. Als den Sieg des Menschen über sich selbst und das Leben in einer vollkommenen Gesellschaft.
Brixtonboogie sind mit „Crossing Borders“ diesem Zustand ein Stück näher gekommen.

Die eingangs erwähnten elektronischen Experimente führten nämlich dazu, dass das Kollektiv spürte, dass die Verankerung fehlte. Nichts gegen die Franzosen von C2C, die in „Down The Road“ Blues-Samples durch Vocoder- und Dubstep-Mixer jagten, aber so konnte man vielleicht mal auf einem Remix klingen – aber nicht grundsätzlich, nicht aus Prinzip. Da fehlte die Brücke vom Gestern ins Heute.
Also drückte man erst einmal den roten Delete-Knopf. Und dann begann man von vorn. Setzte auf das, was auch das erste Album so einzigartig gemacht hatte:

Das Raue.
Das Spröde.
Das Warme.

Schaute sich also nicht mehr im Außen um, sondern konzentrierte sich  auf das Innen. Um dort zu explodieren – wie ein Training von Pep Guardiola, ein Menü von Tim Raue, das Kino von Ang Lee.

„Crossing Borders“ ist so musikalisch eine konsequente Weiterentwicklung des Debüts und so deep, dark und dangerous, dass selbst eine Gänsehaut Gänsehaut kriegt. „Platten“, sagt Krisz Kreuzer lakonisch zu dem nur vermeintlichen Widerspruch, dass das Album zugleich konzentrierter und vielschichtiger ausgefallen ist, „die durchgehend gleich klingen, hasse ich. Bloß nicht immer derselbe Shuffle-Scheiß-Beat.“

Und dennoch gibt es etwas, was „Crossing Borders“ deutlich vom Vorgänger „Urban Blues“ unterscheidet: eine andere Haltung, eine neue Spiritualität.
Spiritualität ist normalerweise ein Wort, bei dessen Erklingen man besser die Flucht ergreift, das Areal esoterischer Mittvierzigerinnen, ein Heilsversprechen an zugigen Bahnhofsecken.  Bei Brixtonboogie ist das nicht gewollt, Spiritualität hat weder etwas mit Beten oder Konfession zu tun, sondern mit dem Gegensatz zu einer rein materiellen Weltanschauung. Mit der Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen. Und einer grundsätzlich eher suchenden denn glaubenden Haltung.
Zweifel? Sinnsuche? Eintauchen in den eigenen Voodoo? Klar. „Wir wollen bestimmt nicht missionieren“, sagt Krisz Kreuzer. „Aber wir wollen strahlen.“ Es darf also auch knallen. Und das tut es. Außerordentlich.
Etwa bei dem Track, wo man denkt: Scheiße, dieses Riff kenne ich doch. Im Stile ausgekochter Lockwerbung wartet die Gitarre allerdings darauf, ihr Versprechen einzulösen. Stattdessen spielen sich ein tranciger Leadbelly und ein wortgewaltiger AJ die Bälle zu. Und irgendwann weiß man auch, woher man dieses Riff kennt. Ram Jam nämlich. Oder doch Scooter?

Brixtonboogie is diggin’ deeper. „ Black Betty“, der Song, der je nach Überlieferung einen Likör verherrlicht oder eine Peitsche, wurde 1933 erstmals aufgenommen, a capella, und sechs Jahre später in einer Version von Leadbelly, auf die sich alle –auch Tom Jones oder Nick Cave & The Bad Seeds – beziehen.

Vielleicht muss man sich das Land der Verheißung heute als tanzbare Geschichtsstunde vorstellen. Als eine, wie der Name Brixtonboogie ja naheliegt, Mischung aus Körperlichkeit und Kampfeslust.
Als eine gefühlvolle Grenzöffnung eben.

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